Wollen wir eine Kirche von allen für alle?
Sind Sie ein Mensch, der der Kirche grundsätzlich offen gegenübersteht? Oder verhalten Sie sich eher zurückhaltend, wenn es um Ihre Position zu einer Mitteilung des Papstes geht? Wie gehen Sie mit der Einladung zur Teilhabe in die Pfarrgemeinde um? Sind Sie für Angebote der Kirche oder überhaupt das Angebot Kirche empfänglich? Das Erzbistum Köln wie auch die ganze katholische Kirche in Deutschland beauftragt regelmäßig ein bedeutendes Marktforschungsinstitut* damit, diese Informationen über Sie einzuholen.
Warum? Angesichts sinkender Mitgliederzahlen und leerer Gottesdienste steht die katholische Kirche vor einer großen Herausforderung: Sie muss sich in einer Gesellschaft, die sich ständig verändert und die über ein Überangebot an Unterhaltung und vermeintlich Sinnhaftem verfügt, positionieren.
Die sogenannte Sinusstudie basiert auf dem Grundgedanken, dass sich innerhalb der Gesellschaft unterschiedliche Milieus finden, deren Angehörige ähnliche Lebenssituationen und Weltsichten teilen. Die aktuelle Studie von 2015 umfasst zehn „Gruppen Gleichgesinnter“, die ähnliche Einstellungen zu Arbeit, Familie, Freizeit, Geld und Konsum haben - Werte und Lebenswelten, die für die Arbeit der Kirche entscheidend sind. Sie erhält so die Möglichkeit, die Menschen mit ihren Interessen und Wertvorstellungen gezielter anzusprechen. Insbesondere in den Seelsorgebereichen kann die Gemeindearbeit und das kirchliche Angebot so ausgerichtet werden, dass es den Bedürfnissen und Interessen der Menschen entspricht, die auch in den Gemeinden leben.
Wertet man die Ergebnisse der Sinusstudie aus, ergeben sich für unseren Seelsorgebereich Sülz und Klettenberg folgende Milieus, die am stärksten vertreten sind:
Auf Platz eins finden wir das Milieu der "Hedonisten" (insgesamt: 14,98%). Diese Gruppe zeichnet sich durch das Motto „Leben im Hier und Jetzt“ aus. Sie entstammt der spaß- und erlebnisorientierten, modernen Unter- bzw. Mittelschicht. Sie sind spontan, unbekümmert und verbringen ihre Freizeit gerne in beliebten Treffpunkten. Sie sind mit neuer Unterhaltungselektronik ausgestattet und nutzen das Internet intensiv. Das hedonistische Milieu ist zwar beruflich angepasst, bricht jedoch in der Freizeitgestaltung aus dem Alltagstrott aus und grenzt sich so von anderen sozialen Gruppen ab. Die meist jungen Menschen stehen dabei gesellschaftlichem Engagement distanziert gegenüber. Der zweite Platz wird von den "Expeditiven" belegt (insgesamt: 14,52%). Sie sind die ambitionierte, kreative Avantgarde – offen für alles! Mental, kulturell und geografisch sind sie auf der Suche nach neuen Grenzen und Lösungen. Meist stammen sie aus gut situierten Elternhäusern und haben eine gute Ausbildung genossen, die freies Experimentieren ermöglicht. Und sie teilen durchaus das Interesse an Spiritualität, jedoch ohne eine Bindung an Institutionen.
Unsere klassischen Kirchgänger sehen anders aus.
Milieus wie etwa "Konservativ-Etablierte" (insgesammt: 10,94%), "Traditionelle" (insgesamt: 8,36%) oder "Bürgerliche Mitte" (insgesamt: 7,15%), für die Werte wie Ordnung und Verantwortung wichtig sind, finden wir erst auf den hinteren Plätzen der Studie. Auf den vorderen Plätzen unserer Kirchen sind sie jedoch erheblich stärker vertreten. Woran liegt das? Passen christliche Werte wie Nächstenliebe etwa nicht zu den meist jungen, modernen Milieus?
Oder könnte es auch daran liegen, dass sie sich einfach nicht angesprochen oder in der Kirche vertreten fühlen? Wenn wir uns das Leben in unseren Gemeinden anschauen, wird schnell klar, dass es viele Veranstaltungen und Initiativen für Senioren und Familien mit Kindern gibt, das Angebot für junge Erwachsene jedoch eher spärlich ist, vielleicht auch gar nicht existiert. Betrachten wir die verantwortlichen Gremien, zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Hier sind die unsere Veedel prägenden Milieus erst gar nicht vertreten.
Ist es nicht Aufgabe der Kirche, die universelle Botschaft Jesu allen Gruppen unserer Gemeinden zugänglich zu machen? Und möglichst alle Gruppierungen in unseren Gemeinden mit einzuschließen? Eine Frage, die über die weitere Existenz unserer Kirche entscheiden könnte. (KH)
*Sinus Markt- und Sozialforschung GmbH, Heidelberg, 2015
Kurzcharakteristik der Sinus?Milieus®
Sozial gehobene Milieus
Konservativ‐etabliertes Milieu
Das klassische Establishment: Verantwortungs‐ und Erfolgsethik; Exklusivitäts‐ und Führungsansprüche, Standesbewusstsein; zunehmender Wunsch nach Ordnung und Balance
Liberal‐intellektuelles Milieu
Die aufgeklärte Bildungselite: kritische Weltsicht, liberale Grundhaltung und postmaterielle Wurzeln; Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstentfaltung
Milieu der Performer
Die multi‐optionale, effizienz‐orientierte Leistungselite: globalökonomisches Denken; Selbstbild als Konsum‐ und Stil‐ Avantgarde; hohe Technik und IT‐Affinität; Etablierungstendenz, Erosion des visionären Elans
Expeditives Milieu
Die ambitionierte kreative Avantgarde: Transnationale Trendsetter – mental, kulturell und geografisch mobil; online und offline vernetzt; nonkonformistisch, auf der Suche nach neuen Grenzen und neuen Lösungen
Milieus der Mitte
Bürgerliche Mitte
Der leistungs‐ und anpassungsbereite bürgerliche Mainstream: generelle Bejahung der gesellschaftlichen Ordnung; Wunsch nach beruflicher und sozialer Etablierung, nach gesicherten und harmonischen Verhältnissen; wachsende Überforderung und Abstiegsängste
Adaptiv‐pragmatisches Milieu
Die moderne junge Mitte mit ausgeprägtem Lebenspragmatismus und Nützlichkeitsdenken: Leistungs‐ und anpassungsbereit, aber auch Wunsch nach Spaß und Unterhaltung; zielstrebig, flexibel, weltoffen – gleichzeitig starkes Bedürfnis nach Verankerung und Zugehörigkeit
Sozialökologisches Milieu
Engagiert gesellschaftskritisches Milieu mit normativen Vorstellungen vom „richtigen“ Leben: ausgeprägtes ökologisches und soziales Gewissen; Globalisierungs‐ Skeptiker, Bannerträger von Political Correctness und Diversity (Multikulti)
Milieus der unteren Mitte / Unterschicht
Traditionelles Milieu
Die Sicherheit und Ordnung liebende ältere Generation: verhaftet in der kleinbürgerlichen Welt bzw. in der traditionellen Arbeiterkultur; Sparsamkeit und Anpassung an die Notwendigkeiten; zunehmende Resignation und Gefühl des Abgehängtseins
Prekäres Milieu
Die um Orientierung und Teilhabe („dazu gehören“) bemühte Unterschicht: Wunsch, Anschluss zu halten an die Konsumstandards der breiten Mitte – aber Häufung sozialer Benachteiligungen, Ausgrenzungserfahrungen, Verbitterung und Ressentiments
Hedonistisches Milieu
Die spaß‐ und erlebnisorientierte moderne Unterschicht / untere Mitte: Leben im Hier und Jetzt, unbekümmert und spontan; häufig angepasst im Beruf, aber Ausbrechen aus den Zwängen des Alltags in der Freizeit.